Ein Rückblick von Prof. Dr. Bernd Werse und Philine Edbauer
Im Februar 2024 schwoll angesichts der herannahenden Abstimmung über das Cannabisgesetz der Bundesregierung am 1. April die mediale Kakophonie über die angeblich schlimmen drohenden Folgen der anstehenden Teillegalisierung immer stärker an – man hatte den Eindruck, die großen Medienhäuser würden nur noch Vertreter*innen von Polizeigewerkschaften und konservativen Medizinerverbänden zum Thema befragen, wodurch der Eindruck entstand, „die Experten“ seien geschlossen gegen das Gesetz. Die Bundesärztekammer und der Deutsche Lehrerverband appellierten im Dezember gemeinsam mit der Gewerkschaft der Polizei, dem Bund Deutscher Kriminalbeamter und einigen weiteren Verbänden in einem Offenen Brief an das Gewissen der Bundestagsabgeordneten, „aus Verantwortung für unser Land – die geplante Cannabislegalisierung stoppen“.1 Dieser fand unmittelbar und in den darauffolgenden Monaten regelmäßig Resonanz in der Presse. Hinzu kam, dass sich einzelne Bundestagsabgeordnete der SPD ebenfalls kritisch gegenüber dem gesamten Vorhaben äußerten. Wenn diese nur genügend Parteikolleg*innen auf ihre Seite gezogen hätten, wäre es möglich gewesen, dass das KCanG mitsamt den Nebenbestimmungen bereits im Bundestag gescheitert wäre. Wir in unserer Funktion als Sprecher*innen des Schildower Kreises und der My Brain My Choice Initiative entschieden uns daher in den letzten Tagen der Entscheidungsfindung, einen Offenen Brief zu formulieren, auf Grundlage interdisziplinärer Erkenntnisse der Drogenpolitik-Forschung. Den Bundestagsabgeordneten sollten die wesentlichen Argumente für die Einführung des neuen Gesetzes vorliegen. Trotz des Zeitdrucks eine Woche vor der Abstimmung gelang es uns, innerhalb von zwei Tagen 31 Professor*innen, Forscher*innen und Fachleute aus den unterschiedlichen Fachgebieten ‒ von Psychiatrie und Pädagogik über Strafrecht und Kriminologie zu Sozialwissenschaften und Theologie ‒ zusammenzutrommeln, die mit ihrer Unterzeichnung ein fachliches Gegengewicht zur Behauptung „alle Experten seien gegen das Gesetz“ setzten.2
Dieser Brief, den wir im Folgenden in voller Länge dokumentieren, wurde per E-Mail und auf Papier am 19. Februar an alle Mitglieder der Fraktionen der Ampelregierung geschickt, zudem an exponierte Bundestagsmitglieder aus den anderen Parteien; außerdem wurde die Presse informiert. Von den großen Medienhäusern erwarteten wir eine Resonanz, wie sie auch dem Offenen Brief der Gesetzesgegner zukam, um das bisherige Bild der vermeintlich einstimmigen fachlichen Gegnerschaft mit derselben Aufmerksamkeit zu korrigieren. Ohne die Aufmerksamkeit durch die Presse und entsprechend der Öffentlichkeit hätte einem Offenen Brief im Bundestag möglicherweise das nötige Gewicht gefehlt. Jenseits einer Meldung des rechtlichen Fachmagazins LTO3, des Psychonauten-Magazins Lucy’s Rausch4 und einer Bezugnahme auf den Brief im Welt-Duell durch die Vorsitzende des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages, Dr. Kirsten Kappert-Gonther (Grüne)5, passierte 36 Stunden lang nichts. Am übernächsten Morgen aber war überall in Deutschland vom Offenen Brief zu lesen und hören: In der ZEIT, im Deutschlandfunk, in der Tagesschau, im Spiegel und anderen6 fand der Offene Brief in den drei Tagen vor der Abstimmung den erhofften Widerhall. Diverse Unterzeichner*innen des Offenen Briefes gaben Presseinterviews.7 Am Münchner Marienplatz verlautete eine t-online-Meldung auf der digitalen Schautafel mitten im Berufsverkehr: „Offener Brief: Rund 30 Experten plädieren für Teil-Legalisierung von Cannabis“.8 Das Zeichen war gesetzt: hier sind Expert*innen, die das Gesetz unterstützen. Die Abstimmung am 23. Februar erfolgte dann mit nur fünf Gegenstimmen aus den Ampel-Fraktionen, während immerhin 31 Abgeordnete aus den übrigen Parteien im Bundestag dafür stimmten. Die Ausschussvorsitzende Dr. Kirsten Kappert-Gonther und Gesundheitsminister Dr. Karl Lauterbach nahmen in ihren abschließenden Reden Bezug auf den Offenen Brief. Während das Gesetz wenige Tage zuvor noch auf der Kippe zu stehen schien, erfolgte die Abstimmung für das Gesetz nun eindeutig.

Kurze Zeit später drohte das Gesetz dann im Bundesrat durch Nachverhandlungen und Verzögerungen auf möglicherweise unbestimmte Zeit zu scheitern, nachdem sich diverse Landespolitiker, auch aus Ampel-Parteien, dafür ausgesprochen hatten, den Vermittlungsausschuss anzurufen. In einem Offenen Brief an die Stimmberechtigten des Bundesrates wiederholten wir die Argumente des Briefs an den Bundestag mit inzwischen 10 weiteren, also insgesamt 40 Expert*innen für Drogen- und Suchtpolitik.9 . Parallel wirkten zahlreiche Cannabis-Aktivist*innen zusammen mit dem Deutschen Hanfverband mit vielfältigen Aktionen auf die Mitglieder des Bundestages ein. Auch der Umstand, dass Vertreter der CDU/CSU ankündigten, mit der Anrufung des Vermittlungsausschluss zu beabsichtigen, keine Nachverhandlungen zu führen, sondern das Gesetz effektiv zu verhindern, hat möglicherweise zum Scheitern ihres Vorhabens beigetragen. Der Fachverband Drogen- und Suchthilfe e.V. fdr+ richtete sich mit seinen 80 Mitgliedsorganisationen in einem „dringenden Appell“ insbesondere an die Länder-Verantwortlichen der SPD: „Das Gesetz mag in Teilen nicht unseren Erwartungen entsprechen,“ so Eva Egartner, Geschäftsführerin fdr+, „es ist aber für uns als Gesellschaft und für uns in der Suchthilfe extrem wichtig. […] Die Verfolgung von Cannabiskonsument*innen kostet Zeit und Geld und vernichtet Zukunft.“10 Die Stimmen für einen solchen Ausschuss reichten einen Tag später am 22.3.2024 im Bundesrat nicht aus und das Gesetz konnte wie vorgesehen am 1. April in Kraft treten.11
Wir sind sehr froh darüber, dass es die Bundesregierung geschafft hat, diesen wichtigen Schritt zu einer menschlichen und pragmatischen Drogenpolitik zu gehen und erwarten von der zukünftigen Regierung, dass sie mit Rückblick auf die gescheiterten Strategien der letzten Jahrzehnte und mit Bedacht auf interdisziplinäre Expertise und Handlungsempfehlungen nicht wieder auf die Ideologie der Prohibition setzen wird.
Mit den inzwischen ersten Ernten des Eigenanbaus und der Anbauclubs beginnt das Cannabisgesetz allmählich seine Wirkung auf Einzelpersonen und die Gesellschaft zu entfalten. Statt einer populistischen Ankündigung der Rückkehr zur polizeilichen und justiziellen Verfolgung und Bestrafung braucht es jetzt einen fachlichen Fokus auf Nachbesserungen und die weitere Abkehr von der gescheiterten, schädlichen, unverhältnismäßigen und teuren Verbotspolitik. Kurzfristig bedarf es etwa der Umsetzung von Modellversuchen für legale, genehmigungspflichtige Lieferketten von Produktion über Großhandel bis zu Fachgeschäften.12 Ziel ist stets die Verwirklichung der Menschenrechte, also die Steigerung der Lebensqualität.
Stellungnahmen:
- Offener Brief an den Bundestag: Professorinnen und Professoren für das Cannabis-Gesetz
- Offener Brief an den Bundesrat: Den 1.4. als Starttermin beibehalten!
- Herr Özdemir: Ermöglichen Sie die Pilotprojekte für einen regulierten Cannabismarkt – jetzt!
Quellen:
1 https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/BAEK/Politik/Programme-Positionen/Gemeinsames_Schreiben_MdBs_Cannabis-Legalisierung_08122023.pdf
2 https://schildower-kreis.de/offener-brief-an-den-bundestag-professorinnen-und-professoren-fuer-das-cannabis-gesetz/
3 https://www.lto.de/recht/nachrichten/n/cannabis-offener-brief-experten-drogen-sucht-legalisierung-entkriminalisierung
4 https://lucys-magazin.com/cang-offener-brief-an-das-parlament/
5 https://www.welt.de/politik/deutschland/video250192720/Cannabis-Legalisierung-Gut-dass-wir-die-Verbotspolitik-aufgeben-denn-sie-hat-massiv-geschadet.html
6 https://schildower-kreis.de/offener-brief-an-den-bundestag-professorinnen-und-professoren-fuer-das-cannabis-gesetz/#presse
7 Ebd.
8 https://schildower-kreis.de/wp-content/uploads/Februar-2024_Marienplatz-Muenchen-Offener-Brief.jpeg
9 https://schildower-kreis.de/offener-brief-bundesrat-cang/
10 https://www.condrobs.de/aktuelles/fdr-und-condrobs-cannabis-regulierung-ueberfaellig/
11 Die Autor*innen des Beitrags haben im „Natürliche Ausrede“ Podcast von Christopher Braucks, Folge 196, ebenfalls den Prozess des Cannabisgesetzes kommentiert und von der Brief-Aktion berichtet: https://www.podcast.de/episode/627379902/196-mit-philine-edbauer-und-bernd-werse-ueber-den-prozess-zur-verabschiedung-des-cannabis-gesetzes
12 https://schildower-kreis.de/oezdemir-saeule-2/
Dieser Artikel wurde gleichzeitig im Blog der My Brain My Choice Initiative veröffentlicht.