Kürzlich haben wir einen offenen Brief an die MdB verschickt, in dem wir als Expertinnen
und Experten aus Wissenschaft und Praxis, die sich mit dem Thema Cannabis beschäftigen,
unsere Unterstützung für das nun im Bundestag beschlossene Cannabisgesetz (CanG)
bekundeten. Da bekannt wurde, dass der Bundesrat das Vorhaben möglicherweise deutlich
verzögern könnte, möchten wir das Thema hiermit nochmals aufgreifen.
Der Konsum von Cannabis (wie auch der von anderen Drogen) ist ein Thema für die
Gesundheits- und Sozialpolitik, nicht für die Innen- bzw. Kriminalpolitik – jedenfalls sollte er
das sein, da es darum gehen sollte, die individuellen und sozialen Risiken und Schäden so
gering wie möglich zu halten. Daher muss ein grundsätzliches Umschwenken stattfinden,
von einer vor allem strafrechtlich-sanktionierenden hin zu einer präventiven und
gesundheitsfördernden Perspektive.
So wurde in den letzten Wochen vielfach diskutiert, wie das CanG zukünftig kontrolliert
werden sollte. Tatsächlich stellt sich diese Frage in den meisten Fällen gar nicht: Wir
erwarten, dass sich die meisten Konsumierenden sozial kompatibel verhalten werden und
sich an die Abstandsgebote halten, ebenso wie ein Großteil derer, die zukünftig selbst
Cannabis züchten, sich an die erlaubte Anzahl der Pflanzen halten wird. Es gibt keinen
Grund, weshalb Polizei und andere Ordnungsbehörden ohne Anlass Kontrollen durchführen
sollten, etwa im Eingangsbereich von Schulen. Sollte es z.B. Lehrkräften auffallen, dass dort
gegen Abstandsgebote verstoßen wird, kann weiterhin jederzeit die Polizei gerufen werden.
Ebenso kann an einschlägigen Orten, an denen Handel in der Öffentlichkeit betrieben wird,
weiterhin entsprechend kontrolliert werden – die Schwierigkeiten, eine Handelsabsicht
nachzuweisen, werden zukünftig nicht größer, als sie es jetzt bereits sind.
Daher ist in dieser Hinsicht nicht mit einem erhöhten Kontrollaufkommen zu rechnen.
Gleichzeitig wird die große Mehrheit der zuletzt rund 175.000 Anzeigen wegen reiner
Besitzdelikte wegfallen. Diese Fälle beanspruchen derzeit einen erheblichen Teil der
Ressourcen der Strafverfolgungsbehörden. Mittelfristig ist mit einem deutlich geringeren
Aufwand für die Strafverfolgung zu rechnen. Eine Verzögerung des CanG hingegen würde zu
Tausenden neuer Fälle unnötiger Kriminalisierung und damit ebenfalls unnötiger Belastung
für die Strafverfolgungsbehörden führen.
Die zunächst ansteigende Arbeitsbelastung für Staatsanwaltschaften zur (partiellen)
Tilgung von Haft- und Geldstrafen – zuletzt als Grund für eine mögliche Verzögerung
genannt – wird zum einen durch den Wegfall neuer Fälle kompensiert und zum anderen
ohnehin nur vorübergehend sein. Die laufenden Vollstreckungsverfahren können bei
systematischer Priorisierung sinnvoll und pragmatisch abgewickelt werden.
Was die zu erwartende Reduktion des illegalen Marktes betrifft, so wird es neben der
Mitgliedschaft in einer Anbauvereinigung zukünftig die Möglichkeit geben, selbst
anzubauen. Wir nehmen an, dass nicht wenige davon Gebrauch machen werden, auch
gelegentlich Konsumierende – diese Annahme wurde kürzlich durch eine Umfrage bestätigt,
nach der 10% der Deutschen erwägen, nach der Legalisierung selbst anzubauen. So wird
ein erheblicher Teil des illegalen Marktes wegfallen.
Damit dieser Effekt bereits in diesem Jahr greifen kann (nicht nur für Anbau unter Kunstlicht,
sondern auch unter ökologisch sinnvollem Sonnenlicht), sollte der 1.4.2024 als optimaler
Starttermin beibehalten werden.
Insbesondere an die Vertreterinnen und Vertreter der Ampel-Parteien, aber auch an alle
anderen Verantwortlichen plädieren wir dringend, dieses wichtige Gesetz für öffentliche
Gesundheit, Jugendschutz und soziale Gerechtigkeit zeitnah in Kraft treten zu lassen.
Ansprechpartner:
Dr. Bernd Werse
Leiter des Centre for Drug Research
Fachbereich Erziehungswissenschaften
Goethe-Universität Frankfurt a.M.
Vorsitzender Schildower Kreis e.V.
Weitere Unterzeichnende:
Dr. Nicole Bögelein
Dipl.-Soziologin
Wissenschaftliche Mitarbeiterin Institut für Kriminologie
Universität zu Köln
Prof. em. Dr. jur. Lorenz Böllinger, Dipl.-Psych.
Professor für Strafrecht und Kriminologie
Fakultät Jura, Universität Bremen
Psychologischer Psychotherapeut/Psychoanalytiker
Prof. Dr. phil. Daniel Deimel
Professor für Klinische Sozialarbeit
Aachen, Sozialwesen
Katholische Hochschule Nordrhein-Westfalen
Philine Edbauer
Regionalwissenschaftlerin
Humboldt-Universität zu Berlin
Jakob Eichler
Philosoph
Humboldt-Universität zu Berlin
Olivia Ewenike
Rechtsanwältin, Strafverteidigerin
München
Univ.-Prof. Dr. Mohamad El-Ghazi
Lehrstuhl für Deutsches und Europäisches Strafrecht, Strafprozessrecht und
Wirtschaftsstrafrecht
Direktor des Trierer Instituts für Geldwäsche- und Korruptionsstrafrecht (TrIGeKo)
FB V – Rechtswissenschaft
Universität Trier
Konstantin Grubwinkler
Spezialist für Betäubungsmittelstrafrecht
Fachanwalt für Strafrecht
Freilassing
Prof. Dr. Johannes Feest
Professor (i.R.) für Strafverfolgung, Strafrecht, Strafvollzug
Universität Bremen
PD Dr. Robert Feustel
Institut für Soziologie
Friedrich-Schiller-Universität Jena
Prof. Dr. Christoph Gille
Professur für Soziale Arbeit in Kontexten von Armut und Ausgrenzung
Fachbereich Sozial- und Kulturwissenschaften
Hochschule Düsseldorf
Prof. Dr. Rita Hansjürgens
Professur für Handlungstheorien und Methoden Sozialer Arbeit und Allgemeiner Pädagogik
Alice-Salomon-Hochschule Berlin
Vorstand DG-SAS Deutsche Gesellschaft für Soziale Arbeit in der Suchthilfe e.V.
Prof. Dr. Justus Haucap
Direktor Düsseldorf Institute for Competition Economics (DICE)
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Luise Klaus
Doktorandin
Institut für Humangeographie
Goethe-Universität Frankfurt
Michael Kleim
Theologe und Seelsorger
Ev. Pfarrer (i.R.)
Gera
Prof. Dr. Boris Michel
Professor für Digitale Geographie
Institut für Geowissenschaften und Geographie
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Heiko Mohrdiek
Rechtsanwalt & Fachanwalt für Strafrecht
Hamburg
Prof. Dr. iur. habil. Helmut Pollähne
Wissenschaftlicher Leiter des Kölner Instituts für Konfliktforschung
Rechtsanwalt für Strafrecht in Bremen
Simon Pschorr
Staatsanwalt
Abgeordneter Praktiker Universität Konstanz
Dirk Schäffer
Leitender Referent für Drogen und Strafvollzug
Deutsche Aidshilfe e.V.
Prof. Dr. jur Stephan Quensel
Professor für Resozialisation und Rehabilitation im Studiengang Soziologie
Universität Bremen
Claudia Schieren
Vorsitzende JES Bundesverband e.V.
Dr. Stephan Schleim
Assoziierter Professor für Theoretische Psychologie
Universität Groningen (Niederlande)
Prof. Dr. Henning Schmidt-Semisch
Professor am Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften
Institut für Public Health und Pflegeforschung, Abt. Gesundheit & Gesellschaft
Universität Bremen
Rüdiger Schmolke MA Pol./MPH
Fachbereich Sozial- und Bildungswissenschaften
Fachhochschule Potsdam
Dr. med. Hermann Schulte-Sasse
Ehem. Senator für Gesundheit in Bremen
Hubert Schwaighofer
Schulsozialarbeiter
Erlebnispädagoge
Kunst/Kultur/Umweltpädagoge
Präventionsbauftragter
Dr. iur. Sebastian Sobota
Rechtsanwalt
Habilitand
Johannes Gutenberg-Universität
PD Dr. Felicitas Söhner
Department of the History, Philosophy and Ethics of Medicine
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf – Centre for Health and Society
Prof. Dr. Anke Stallwitz
Professorin für Sozialpsychologie
Fachbereich Soziale Arbeit
Evangelische Hochschule Freiburg
Dr. Fabian Pitter Steinmetz
Toxikologe
Vorstand Schildower Kreis e.V.
Prof. Dr. Heino Stöver
Professor für für sozialwissenschaftliche Suchtforschung
Frankfurt University of Applied Sciences
Vorsitzender Akzept e.V.
Prof. Dr. Rebekka Streck
Professur für Sozialpädagogik
Studiengangsleitung BA Soziale Arbeit
Evangelische Hochschule Berlin
Karsten Tögel-Lins
Geschäftsführer BASIS – Beratung, Arbeit, Jugend & Kultur e.V.
Frankfurt am Main
Prof. Dr. Ursula Unterkofler
Professur für Methoden der empirischen Sozialforschung und Evaluation
Fakultät für angewandte Sozialwissenschaften
Hochschule München
Prof. Dr. med. Birgit Völlm PhD MRCPsych DiplForPsych
Professorin für Forensische Psychiatrie, Klinikdirektorin
Universitätsmedizin Rostock
Dr. Clivia von Dewitz
Richterin am Amtsgericht
Bad Segeberg
Prof. Dr. Jan Wehrheim
Professor für Soziologie
Institut für Soziale Arbeit und Sozialpolitik
Universität Duisburg-Essen
Patrick Werth
Heilpädagoge B.A. / M.A.
Hochschuldozent, Schwerpunkt Kinderschutz
Hubert Wimber
Polizeipräsident Münster a.D.
Vorsitzender LEAP Deutschland e.V.
Prof. Dr. Till Zimmermann
Inhaber des Lehrstuhls für Strafrecht und Strafprozessrecht
Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf
Dr. Martin Zinkler
Chefarzt
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie
Gesundheit Nord gGmbH – Klinikverbund Bremen
Standort Klinikum Bremen-Ost
Unterzeichnende seit der Veröffentlichung:
Dr. Katja Thane
Universitätslektorin
Fachbereich Human- und Gesundheitswissenschaften
Universität Bremen
Einige der Unterzeichnenden sind Mitglieder des Schildower Kreises.